Die Überlebenssekunde




Autofahren kann gefährlich sein. Das wissen wir alle. Wir wissen auch, daß wir nicht automatisch vor Unheil gefeit sind, auch wenn wir strikt defensiv fahren. Aber noch nie waren Fahrer und Insassen so gut geschützt wie heute. Eine unerwünschte Geschichte, ausgedacht am Schreibtisch unter Auswertung aller Simulationen, Tests und Berechnungen,

von Harry Niemann


Als Bruno B. sein Büro verläßt, sind fast zwölf Stunden vergangen, seit er aus dem Haus ging, das in einer mehr ländlichen Gemeinde liegt. Der Sommermorgen war noch schon gewesen, aber über Tages hat es sich bewölkt, am Abend nun beginnt es leicht zu regnen. Bruno B. freut sich, in seinem neuen E-Klasse Mercedes zu sitzen, bevor es richtig schüttet. .Er schaltet den Motor und die Luftentfeuchtungsfunktion der Klimaanlage an, um ein Beschlagen der Scheiben zu verhindern. Der dichte Verkehr hat sich weitgehend aufgelöst, die Fahrzeuge fließen mit einer mittleren Geschwindigkeit wie ein träger Strom .Um den Nachrichten zu entkommen, schiebt Bruno B. eine CD in das Autoradio. Mozart, das 21. Klavierkonzert, dazu der warme Sommerregen. Seine Gedanken wandern langsam vom Büro zum Wochenende und dem geplanten Spaziergang mit Hund und Familie.

Bruno B. hat es aufgegeben, sich über den Traffic jam aufzuregen. Mittlerweile liegt die Stadt hinter ihm, er rollt auf einer kurvigen Straße durch die Mittelgebirgslandschaft. Es regnet hier nur schwach, die Straße ist erst feucht. Bruno B. öffnet die Hebefunktion seines Schiebedachs und atmet die frische Waldluft ein, die ins Wageninnere strömt. Das Ende der längeren Gerade mundet in eine langgezogene Linkskurve, die aus dem Wald herausführt.

Als er diese Kurve erreicht, ist der Tag genau 72555 Sekunden alt. Es ist eine langgezogene Kurve, die eine relativ hohe Geschwindigkeit verträgt. Er rollt mit 110 Stundenkilometern etwas über dem gesetzlichen Limit. Wahrend er in die Kurve steuert, bemerkt er den entgegenkommenden blauen Lieferwagen, der viel zu schnell in die Kurve rauscht und auf der angeregneten Fahrbahn auf ihn zurutscht. Erschrocken tritt Bruno B. auf die Bremse, angesichts der Kurve allerdings dosiert.

Gleichwohl erkennt die Elektronik an der Geschwindigkeit, mit der das Bremspedal getreten wird, daß eine Notsituation vorliegt, und gibt automatisch den maximalen Bremsdruck an alle vier Räder, die nun den Wagen im Regelbereich des Antiblockiersystems verzögern.

Als sich die Fahrzeuge mit einer Überdeckung von 40 Prozent berühren, ist der Mercedes noch 45 km/h schnell. Der Lieferwagenfahrer hat sein Fahrzeug ebenfalls abgebremst. Seine Geschwindigkeit: 65 km/h.Die Relativgeschwindigkeit, mit der die Fahrzeuge aufeinanderprallen, betragt 110 km/h. Was nun geschieht, liegt unterhalb der Sekundenebene. Kein Mensch erlebt es bewußt: Fünf Millisekunden, nachdem sich die Fahrzeuge berührt haben, beginnen sich die Längsträger des E-Klasse-Mercedes aufzufalten, um die elementare Wucht der Aufprallenergie in Verformungsarbeit umzusetzen. Das Fahrzeug wird abrupt verzögert. Der Sensor auf dem Getriebetunnel registriert diese Verzögerung und gibt seine Information an den Bordcomputer weiter. Bis dahin sind 23 Millisekunden vergangen. Die Geschwindigkeitsveränderung des Fahrzeugs, das sogenannte Delta V, wird vom Computer anhand der Sensor-Daten berechnet und mit den gespeicherten Werten verglichen. Der Rechner weiß nun genau, daß das Fahrzeug einen schweren Unfall hat, und zündet die Treibsätze der Gurtstraffer. Es dauert nur vier Millisekunden, bis die Gurte straff anliegen. Noch bevor die Verzögerung den Körper von Bruno B. in Richtung Lenkrad und Armaturenbrett jagen kann, ist er durch den Gurt fixiert. Bis dahin sind 32 Millisekunden vergangen. Der Bordcomputer löst nun den Fahrer-Airbag aus. Den Beifahrer-Airbag läßt er unberücksichtigt, da seine Sensoren keinen Passagier registrieren. Es dauert nur 30 Millisekunden, bis der mit 70 Gramm Festtreibstoff angetriebene Gasgenerator den Luftsack mit einem Druck von 0,7 Bar aufgeblasen hat.

Noch wahrend sich der Airbag füllt, klinkt sich der Integralträger, auf dem der Motorblock montiert ist, selbsttätig aus. Die Längsträger, welche die Aufprallenergie aufnehmen, können sich weiter verformen. Durch einen Querträger, der einen Zugverband mit den Längsträgern bildet, wird. auch die dem Unfallgeschehen abgewandte Seite mit in die Verformungsarbeit zur Energieaufnahme einbezogen. Es sind 60 Millisekunden vergangen, bis Bruno B. mit seinem Körper in den Airbag eintaucht. Zum gleichen Zeitpunkt hat der Motorblock die stabile Fahrgastzelle erreicht und wird von ihr aufgehalten. Das Getriebe gleitet in den Getriebetunnel und leitet die Aufprallenergie an Kardanwelle und Hinterachse weiter. Die Nebenaggregate wie Klimaanlage und Antiblockiersystem verschieben sich, um den genau berechneten Deformationsprozeß nicht zu behindern. Das Vorderrad der dem Unfall zugewandten Seite wird durch den seitlichen Längsträger so fixiert, daß es nicht in den Fußraum eindringen kann. Die Lenkwelle, die das Steuerrad mit dem Lenkgetriebe verbindet, hat sich (da zwar verdrehfest, aber ansonsten knick- und biegeschwach ausgeführt) zur Seite hin verformt, so daß keine Verformungsenergie bis zum Lenkrad vordringen kann.

Bis dahin sind 70 Millisekunden vergangen; und der Körper von Bruno B. liegt mit einem Gewicht von 450 Kilogramm im Gurt. Tendenz weiter steigend. Damit ist die Belastungsgrenze des menschlichen Brustkorbs erreicht. Ein Torsionsstab, der sogenannte Gurtkraftbegrenzer, beginnt sich nun zu verdrehen. Der Gurt gibt kontrolliert nach, und der Körper kann tiefer in den Airbag eintauchen. Nach nur 115 Millisekunden bewegt sich der Körper zurück und wird von Sitzlehne und Kopfstütze aufgefangen. Es sind jetzt 150 Millisekunden vergangen, der Unfall ist vorbei.

Bruno B. ist körperlich unversehrt, der Innenraum ist intakt, die Tür läßt sich relativ leicht öffnen. Bruno B. hat einen Schock. Er taumelt aus dem Fahrzeug und setzt sich an den Waldrand. Er ist wie gelähmt, weiß nicht, was passiert ist. Aber schon wahrend des Unfalls hat der Bordcomputer den TELE AID Controller (Notrufsystem ARTHUR) aktiviert. Der setzt automatisch ein Notruftelegramm über die bordeigene D-Netz- Mobilfunkanlage ab: Kennung des Fahrzeugs, Uhrzeit, genauer Standort, Schwere des Unfalls und Hinweis, daß es sich um einen automatischen Notruf handelt. Wahrend die ersten Fahrzeuge, die an der Unfallstelle ankommen, anhalten, um den schwer verletzten Lieferwagenfahrer zu versorgen, der nicht angeschnallt war, und während Bruno B. noch benommen am Waldrand sitzt, werden aktiviert durch den automatischen Notruf Rettungswagen und Hilfsdienste mobilisiert. 15 Minuten später treffen sie am Unfallort ein.
Als Bruno B. am darauffolgenden Tag mit der Familie spazierengeht, scheint ihm das Geschehene im Rückblick wie ein böser Traum.

Es war der kürzeste und wichtigste Augenblick in seinem Leben.